Es wird seit Jahren über "Politikverdrossenheit" geredet und geschrieben. Die nächste Stufe der Eskalation ist dann, dass die Demokratie in Gefahr ist. Dabei werden die Gefahren von "links", von "rechts" und "amerikanische Verhältnisse" oder eine "Trumpisierung" der Gesellschaft beschrieben.
Die Sorge um das Wohlergehen unserer Demokratie hat eine lange Geschichte. So beschrieb schon Friedrich-Ebert, dass eine Demokratie Demokraten braucht und Ernst-Wolfgang Böckenförde prägte die Feststellung, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.
Aus meiner Sicht sind Wahlrechtsreformen gute Schlaglichter, um einen Blick auf den Zustand der Parteiendemokratie zu werfen. Nach Art. 38 Abs 1 S. 2 GG sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Das Kernproblem des Wahlrechts der letzten Jahre war das sogn. negative Stimmgewicht. Hier konnte es dazu kommen, dass eine Partei durch zusätzliche Stimmen weniger Mandate erhielt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das BVerfG Überhangmandate ohne Ausgleich für zulässig hielt, soweit sie nicht in größerem Umfang als eine halbe Fraktionsstärke auftreten (das sind bei Regelgröße 15 Stück). Darüber hinaus ist oft unbekannt, dass Ausgleichsmandate nicht nur durch Überhangmandate ausgelöst werden, sondern auch durch einen Ausgleichsmechanismus zwischen den Bundesländern, damit auf die Bundesländer bezogen, jede Stimme gleichmäßig im Bundestag vertreten ist (vgl. auch unten die Lösung von Hesse). Eine gute Übersicht über die verfassungsrechtlichen Anforderungen bietet die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes vom 10. Nov. 2020.
Nun steht wieder eine Wahlrechtsreform an und die Ampelkoalition hat sich dazu entschlossen, den personalisierten Teil der Verhältniswahl zu marginalisieren. In knappen Wahlkreisen wird der Wahlkreisgewinner zittern müssen, ob er in den Bundestag kommt. Das Risiko, dass bestimmte Wahlkreise nicht mehr oder nur durch Kandidaten an den Rändern des politischen Spektrums vertreten werden, ist damit wahrscheinlich. Überraschungssiege werden seltener, denn diese sind meist knapp und die Überraschungssieger nicht durch die Landesliste abgesichert. Die Grundmandatsklausel wird umfassend abgeschafft. Das dürfte für die Linke unmittelbar existenzbedrohend und für die CSU immerhin noch sehr gefährlich sein. Die CSU erzielte bei der letzten Bundestagswahl 5,2 Prozent. Nach dem aktuellen Vorschlag wären nämlich bei 4,99 Prozent auch die Direktkandidaten nicht mehr vertreten, da einer Partei dann nach dem Zweitstimmenergebnis keine Sitze zustehen würden.
Im Kern führt diese Reform daher zu folgenden Punkten:
Eine Ausnahme soll für unabhängige Kandidaten gelten. Davon gab es zwar nur 1949 drei Stück. Wenn also unabhängige Kandidaten antreten, dann wären sie mit relativer Mehrheit gewählt, wenn sie das Pech haben in einer Partei zu sein, die die 5% Hürde nicht schafft, dann gibt es kein Mandat.
Ich würde mir wünschen, dass über die Spitzenkandidaten hinaus Persönlichkeiten wieder eine größere Rolle spielen. Im Rahmen der Kommunalwahl erlebt man es regelmäßig, dass die Wähler Kandidaten von Platz 10 der Liste direkt in den Kreistag oder Stadtrat wählen.
Die Wahlsysteme für die Kommunalwahl sind überwiegend ähnlich. Übertragen auf den Bundestag würde das bedeuten: Die Wähler hätten beispielsweise drei Stimmen und könnten diese einer Partei oder einem Kandidaten geben. Man kann kumulieren (mehrere Stimmen einer Person/Partei geben) und panaschieren (verteilen der Stimmen auf mehrere Personen/Parteien). Am Ende werden die Stimmen zusammengezählt und die jeweiligen Mandate an die Parteien verteilt (Verhältniswahl). Dann werden die Mandate nach Personenstimmen und Listenstimmen aufgeteilt (personalisiert) mit dem Effekt, dass besonders überzeugende Kandidaten auch von unteren Plätzen in der Liste ein Mandat erhalten können. Dann erhalten entsprechend Kandidaten von Listen die restlichen Plätze.
Damit solche Listen tatsächlich Sinn ergeben, müssten die Wahlkreise natürlich deutlich größer werden. Vier bis fünf Wahlkreise würden dann zu einem neuen Wahlkreis. Auf diesen größeren Wahlkreis würden dann 8-10 Abgeordnete entfallen. Damit hätte aber sogar jede Partei mit größerem Erfolg (ab ca. 10%) in jedem Wahlkreis einen Ansprechpartner.
Der Nachteile läge darin, dass die Wahlkreise noch größer werden. Schon heute haben Bundestagsabgeordnete wenig Zeit für Zeit in ihrem Wahlkreis. Darüber hinaus ist die Zahl ungültiger Stimmen bei Kommunalwahlen höher als bei Bundestagswahlen aber mit 2% immer noch gering.
Im Gegenzug erhielte man ein Wahlsystem, bei denen die persönliche Verantwortung des gewählten wieder stärker ausgeprägt ist und die Wahlberechtigten wieder mehr Kontrolle über den Ausgang der Wahlen haben. Die Macht von Landeslistengremien wird geringer, deren Arbeitsweise selbst für Parteimitglieder oft intransparent ist.
Aus meiner Sicht spricht viel dafür ein etabliertes Kommunalwahlsystem zu wählen. Es gibt aber noch andere interessante Gedanken, die bei einer Wahlrechtsreform hätten einbezogen werden können. Viele Ideen findet man auch auf der Seite des Vereins mehr Demokratie e.V.. Einen minimalinvasiven Eingriff hat der Stuttgarter Mathematiker Hesse vorgeschlagen.
Der Akt der Wahl ist derzeit ein Nullsummenspiel. Parteien können nur gewinnen, wenn andere Stimmen verlieren. Die Probleme um die sich Politik kümmert, sind aber grundlegend anders (vgl. Punkt 2: Wandel der Regeln)
Man könnte das Alter für das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre verringern. Inzwischen hat man Erfahrungen durch Kommunalwahlen gesammelt. Schlimme Dinge sind ausgeblieben. Die erhöhte Quote an ungültigen Stimmen, könnte natürlich zum Teil auch darauf zurückführen sein (ich halte das jedoch nicht für wahrscheinlich).
Die Argumente sind ähnlich wie bei der Reduzierung des Wahlalters, aber es wird konsequenter umgesetzt. Wahlrecht ab der Geburt, welches zunächst noch von den Eltern ausgeübt wird. So bekommen Minderjährige eine Stimme in der Politik und auch ein entsprechendes Gewicht bei den Stimmen.
Es ist sehr schwer für neue Parteien in den Bundestag zu kommen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass der Bundestag auch mit Einzelmandatsträgern (SSW, Ex-AFD oder auch PDS in der Vergangenheit arbeitsfähig war).
Das Problem entsteht ja, weil Wähler die Erststimme und die Zweitstimme unterschiedlichen Parteien geben. Wenn man nun nur noch eine Stimme hat, verringert sich das Problem ganz maßgeblich.
Der Gedanke vom Wahlrecht als "Wettbewerbsrecht der Parteien" gefällt mir. Das setzt aber voraus, dass Parteien Zugeständnisse machen, wo es auf den ersten Blick nicht notwendig wäre. Langfristig würden damit alle gewinnen.
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