Warum politische Entscheidungen nur selten im Prozess besser werden.

Warum politische Entscheidungen nur selten im Prozess besser werden.

Ausgangslage

Einer meiner Gründe (die anderen Gründe finden sich hier) mich für ein Ratsmandat zu bewerben, war der Wunsch moderne Problemlösungstechniken in der Politik zu verproben. Nach einiger Zeit in der Praxis habe ich zwei Feststellungen gemacht:

1. Die Macht des Status-Quo ist riesig. Neben dem Status-Quo-Bias liegt das daran, dass in Gesprächen, in denen man eine Einigung mit allen möchte, die Alternative zum Verhandlungsergebnis immer der Status-Quo ist.

Exkurs: Ich würde mir übrigens eine Politik wünschen, in der die aktuelle Mehrheit, potentielle Mehrheiten der Zukunft einbindet und man probiert eine konsensuale Lösung zu finden. In einem solchen Fall wäre die Alternative zum Verhandlungsergebnis die Auffassung der Mehrheit. Das zu verhandelnde Premium wäre aber eine Dauerhaftigkeit der Projekte durch einen breiten Konsens und in vielen Fällen vermutlich bessere Lösungen.

2. Das aktuelle System der Entscheidungsfindung behindert aktiv kooperatives Verhalten der Beteiligten. Den vorherigen Satz darf man gerne zwei Mal lesen. Es erscheint mir nämlich absurd. Wer meint, dass ein System oder eine Umgebung keinen Einfluss auf Menschen hat, der kann sich gerne mal zum Milgrim-Experiment oder zum Stanford-Prison-Experiment informieren.

Der Ablauf

Wir nehmen für unser Beispiel an, dass bei jedem Schritt, indem man Kontakt mit Leuten außerhalb der eigenen Fraktion hat, gute Argumente für die Gegenseite dazu kommen, die aber nicht zwingend sind. Ein üblicher Ablauf ist so:

Hier gibt es den grundsätzlichen Ablauf als Bild (klicken klappt aus/ein)

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  1. Die Verwaltung bringt eine Vorlage ein.
  2. Die wird in der Fraktion (bei uns zwölf Leute) besprochen. 
  3. Dann gehen vier Leute in den ersten Ausschuss. Wie gut müssen nun die Argumente der anderen sein, damit diese vier Leute anders abstimmen, als es vorher zu zwölft besprochen worden ist?
  4. Dann gibt es die nächste Fraktionssitzung. Wie wahrscheinlich ist, dass die zwölf ihre Entscheidung nun ändern, nachdem die vier bereits öffentlich dafür oder dagegen gewesen sind?
  5. Es folgt der zweite Ausschuss. Nun stimmen weitere vier ab. Wie wahrscheinlich ist, dass diese von der Abstimmung davor abweichen?
  6. Es folgt die Fraktionssitzung vor dem Rat. Es haben bereits acht Leute in einer Weise abgestimmt. Wie groß ist hier also noch ein Sinneswandel einer Fraktion?
  7. Dann folgt die Ratssitzung. Hier bereiten sich die Redner nochmal besonders vor. Aber die wahrscheinlichkeit, dass sich hier etwas am Abstimmungsverhalten ändert, ist verschwindend gering.
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Beispiel für Abstimmungsverhalten mit Zahlen

Gehen wir davon aus, dass es sich um ein Thema handelt, bei dem zunächst scheinbar beide Seiten gute Argumente haben. In der ersten Fraktionssitzung ist die Verteilung 10x ja und 2x nein. Mit den zusätzlichen Infomationen ist "nein" die richtige Variante. Bei jedem Kontakt mit Dritten einschließlich der Fraktionssitzung würden sich 33% durch die zusätzlichen Argumente überzeugen lassen. Wir haben also drei Durchgänge.

Bei freier Entscheidungsfindung, wären nach dem ersten Kontakt drei weitere Personen (1/3*10) von einem Nein überzeugt. Nach dem zweiten Kontakt zwei weitere Personen (1/3*7) und beim dritten Kontakt zwei weitere Personen (1/3*5). Am Ende wäre die Meinung 3 ja; 9 Nein. Der Vorschlag würde abgelehnt.

Nun bleiben die Annahmen, aber wer sich öffentlich festgelegt hat, bleibt dabei. Wer meint, dass vorangegangenes Verhalten spiele keine Rolle kann sich gerne zum eskalierenden Commitment oder zur "foot-in-the-door Technik" informieren. Bekannt ist hier das Experiment mit den Schildern im Vorgarten von Freedman und Fraser. Paradoxerweise müssen in unserem Beispiel genau die Leute, die die neuen Argumente gehört haben, sich im Anschluss festlegen. Damit verpufft der Effekt der Argumente. Denn selbst wenn jemand Zweifel an der Position der eigenen Fraktion bekommen hat, so wird er wenn mehrere andere mit "nein" abstimmen, ebenfalls mit "nein" abstimmen. Wahrscheinlich ist sogar einer der ursprünglichen Nein-Sager in einem der Ausschüsse und legt sich auf ggf. "ja" fest. Er wird dann auch im Rat dafür stimmen. Das Ergebnis würde dann 11:1 ausgehen.

Lösungen innerhalb des bestehenden Systems

Natürlich ist mir bewusst, dass es Mittel und Methoden gibt, diesem Problem zu entgehen. 

  1. Die eine ist das Schieben der Vorlage in den nächsten Ausschuss. 
  2. Die andere ist die Enthaltung. 

Ein Schieben der Vorlage braucht eine Mehrheit. Das hat unterschiedliche Auswirkungen: Die Minderheit ist auf die Mitwirkung der Mehrheit angewiesen. Während es mal einen Brauch gab, beim Wunsch einer Fraktion auf Schiebung, mitzustimmen, ist davon nicht mehr viel übrig. Die Mehrheit kann leicht schieben, aber die Öffentlichkeit und auch die anderen Fraktionen haben ein Interesse den aktuellen Stand zu erfahren. Wenn alle vermutlich einer Meinung sind, dann kann man die knappen Ressourcen für andere Themen einsetzen. Es kann auch sein, dass es Sachverhaltsfragen gibt, die eine Entscheidung maßgeblich beeinflussen. Für die Mehrheit ist es aber sehr leicht, keine Begründung abzugeben. Auch die andere Variante der Enthaltung hat ihre Tücken, geht damit ebenso der Eindruck der Zögerlichkeit einher.

Fazit und Ausblick

Die Tücken des Systems und den Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben wir nun skizziert, aber wie könnte ein Reform aussehen?

Zunächst ist die Gliederung der Ausschüsse derzeit der Struktur der Stadtverwaltung nachempfunden. Das scheint mir nicht zwingend. Auch die weitgehende Kontinuität der Ausschüsse ist etabliert. Sonderthemen werden über Komissionen oder gelegentlich über gemeinsame Ausschussitzungen gelöst. 

Das sind aber zusätzliche Termine und führt dazu, dass Querschnittsthemen keinen richtigen Ort der Beratung haben. Man könnte auch über prozessuale Ausschüsse wie einem Antragssausschuss nachdenken. Hier könnten schnell die unstreitigen und streitigen Punkte identifiziert werden. 

Möglicherweise könnte auch gemeinsam zunächst darüber nachgedacht werden, welche Teile des Sachverhalts noch fehlen. Im Anschluss könnte ich mir auch vorstellen, dass die Strukturierung der Tagesordnungen in streitige und unstreitige Teile aufgeteilt werden könnte. 

Man könnte auch bei der Presse oder den Bürgern abfragen, welche Themen besonders erklärungsbedürftig sind. In der Regel werden es die streitigen Themen sein, aber Ausnahmen sind nicht ausgeschlossen. Debatten über unstreitige Themen könnten so verkürzt werden. 

Die wichtigste Maßnahme scheint mir aber zu sein, dass man sich der Effekte des Systems auf die Entscheidungen bewusst wird. Nicht selten höre ich bei Nachfragen auf Kompromissmöglichkeiten die Antwort, dass es nun zu spät sei. Ich denke, es ist selten zu spät für eine bessere Lösung. Gute Kompromisse lassen sich aber nur finden, wenn man die Positionen der anderen Seite versteht. Ausführliche Beiträge gibt es aber oft erst in der Ratssitzung. 

Das NKomVG gibt einen gewissen Rahmen vor, aber in diesem Rahmen werden die Möglichkeit am "wie" einer Zusammenarbeit nur selten erprobt. Oft siegt der Status-Quo, dessen Macht, ist aber auch riesig.

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